Umsatzsteuerkarussell: Tolerierter Steuerbetrug in Milliardenhöhe?
Ein seit 30 Jahren bekannter Trick der organisierten Kriminalität im EU-Handel verursacht jährlich weit über 50 Milliarden Euro Schaden. Effektive Maßnahmen können das “Umsatzsteuer-Karussell” stoppen – sofern Deutschland und die EU endlich handeln.
Der Schaden durch den organisierten Steuerbetrug in der EU ist hoch. Allein weit über 50 Milliarden Euro gehen jährlich in der EU durch das sogenannte Umsatzsteuer-Karussell verloren. Rechnet man die letzten 30 Jahre zusammen, entsteht so eine unvorstellbar hohe Summe von 1,5 Billionen Euro an gestohlenen Steuereinnahmen. Gelder, für die alle Bürgerinnen und Bürger ihren Beitrag geleistet haben und die für Investitionen in Sicherheit, Gesundheit, Bildung, Infrastruktur, Forschung oder Steuersenkungen fehlen.
Das Bewusstsein um den Diebstahl ist trotz der immensen Summe in der Bevölkerung überraschend gering – und auch die Politik scheint die Brisanz stark zu verkennen.
Steuerbetrug durch EU-Handel: So funktioniert das Umsatzsteuer-Karussell
Beim sogenannten Umsatzsteuer-Karussell handelt es sich um eine hochkomplexe, in der EU weit verbreitete Betrugsmethode, bei der die Finanzbehörden bewusst getäuscht werden. Die Täter nutzen die Grenzen zwischen den EU-Ländern aus, um unrechtmäßige Erstattungen von Vorsteuer zu erhalten. Allein in Deutschland entsteht somit ein jährlicher Schaden von über 15 Milliarden Euro.
In drei Schritten zum Steuerbetrug
Bei Lieferketten innerhalb des europäischen Binnenmarkts können sich Unternehmen die in Rechnung gestellte Vorsteuer rechtmäßig vom Finanzamt erstatten lassen. So funktioniert die legale Lieferkette (siehe Grafik):
Schritt 1: Firma 1 sitzt im europäischen Ausland. Sie verkauft Ware an Firma 2 in Deutschland. Es fällt keine Steuer an, weil es sich um eine innergemeinschaftliche Lieferung handelt.
Schritt 2: Firma 2 verkauft die Ware weiter an Firma 3. Diese Firma sitzt auch in Deutschland. Deshalb fällt Umsatzsteuer an. Firma 3 zahlt die Umsatzsteuer an Firma 2, die sie dann ans Finanzamt abführt.
Schritt 3: Firma 3 verkauft die Ware zurück an Firma 1 ins EU-Ausland. Diese innergemeinschaftliche Lieferung ist steuerfrei. Da sie Umsatzsteuer an Firma 2 bezahlt hat, kann sie den Betrag als Vorsteuer beim Finanzamt geltend machen. Sie erhält das Geld vom Finanzamt zurück.
Die Abzockmasche: Firma 2 blufft, sie ist ein Missing Trader. Sie führt keine Umsatzsteuer an das Finanzamt ab und hinterzieht bewusst Steuern. Firma 3 macht dennoch die Vorsteuer geltend und erhält das nicht gezahlte Geld vom Finanzamt zurück. Das Finanzamt zahlt also mehr aus, als es einnimmt.

Damit der Trick funktioniert, braucht es mindestens 3 Unternehmen im kriminellen Netzwerk. Tatsächlich sind die Handelswege aber zumeist deutlich länger und undurchdringlicher als in unserer Erklärung dargestellt. Zur Verschleierung werden auch seriöse Unternehmen in die Handelskette eingebunden, ohne selbst zu wissen, dass sie Teil des organisierten Betrugs sind. Die als Missing Trader geltenden Unternehmen sind oft reine Briefkastenfirmen oder führen Insolvenzen bewusst herbei.
Klassische Kontrollmechanismen greifen kaum
Verworrene Handelsketten, Firmenbestattungen und Strohmänner
Die Betrüger dingfest zu machen, gestaltet sich als schwierig. Stark verworrene Handelsketten und die konventionelle Buchhaltung erschweren die Ermittlungsarbeiten. Wenn der Steuerbetrug auffällt, ist es oft zu spät: Der Missing Trader verschwindet nach kurzer Zeit vom Markt oder der Firmensitz ist bereits ins (europäische) Ausland verlegt – ohne eine umfassende europäische Zusammenarbeit gegen Finanzkriminalität haben Betrüger so leichtes Spiel. Auch der Einsatz von teils ahnungslosen Strohmännern schützt die Hintermänner, deren Identität nur selten ermittelt werden kann. Am Ende haftet niemand.
Eine eindrucksvolle Demonstration der oben genannten Methoden zeigt etwa die investigative Reportage des rbb “Das Strohmann-Kartell. Dienstleister der Mafia” (Erstausstrahlung 30.07.2024 / Das Erste).
Kombinierte Waren- und Dienstleistungsketten
Aktuelle Entwicklungen zeigen zudem ein zunehmendes Zusammenspiel zwischen physischen Warenbewegungen und virtuellen Dienstleistungen. Insbesondere im Bereich digitaler Produkte entstehen hybride Geschäftsmodelle, die die Abgrenzung zwischen steuerpflichtigen und steuerfreien Umsätzen weiter erschweren.
Einsatz von Kryptowährungen
Mittlerweile werden auch häufig Kryptowährungen eingesetzt, um klassische Kontrollmechanismen zu umgehen und Finanzströme schwerer nachvollziehbar zu machen.
Unrechtmäßige Auszahlungen verhindern: Diese Maßnahmen stoppen das Umsatzsteuer-Karussell
Die effektivste Maßnahme, um weiteren Betrug zu verhindern, ist die EU-weite Verpflichtung zur elektronischen Rechnung mit einheitlichen Standards bei grenzüberschreitendem Warenverkehr. Als weiteren Schritt bedarf es eines umfassenden europäischen Meldesystems mit forensischem Datenabgleich und dem Einsatz von Mustererkennungssoftware. So kann Betrug früh erkannt werden.
Gleichzeitig kann sichergestellt werden, dass Vorsteuererstattungen bei innereuropäischen Lieferungen nur dann ausgezahlt werden, wenn die Umsatzsteuer tatsächlich abgeführt wurde. Unrechtmäßige Auszahlungen würden verhindert – und die Betrugsmasche Umsatzsteuer-Karussell liefe ins Leere.
“Es ist absurd, dass dieser Betrug seit 30 Jahren toleriert wird.Der systematische Diebstahl von Abermilliarden muss gestoppt werden!”, stellt DSTG-Bundesvorsitzender Florian Köbler klar. “Jeden Tag gehen rund 136 Millionen Euro an Steuergeldern in der EU verloren. Die Politik muss dringend handeln, um die gestohlenen Gelder zurückzuholen und weiteren Betrug frühzeitig zu stoppen.”
Tatsächlich konnten EU-Länder, die bereits Maßnahmen wie die Verpflichtung zur elektronischen Rechnung ergriffen haben, eine positive Entwicklung verzeichnen. Bestes Beispiel ist hier Italien. Das Land wies noch vor Kurzem die prozentual höchste Steuerlücke (rund 26 % der Steuereinnahmen) in Europa auf. Doch die Regierung hat es durch die konsequente Umsetzung effektiver Maßnahmen geschafft, die Steuerlücke von 35,4 Mrd. Euro in 2018 in wenigen Jahren auf 14,6 Mrd. Euro zu reduzieren. Das entspricht einer Reduzierung der Steuerlücke um beinahe 60 %.
“Es braucht dringend Investitionen in eine moderne technische Ausstattung der Steuerverwaltung und einheitliche EU-weite Standards, damit effektive Methoden wie forensischer Datenabgleiche und Mustererkennungen von Betrugsfällen flächendeckend möglich sind”, fordert Köbler. “Ein gemeinsamer europäischer Weg ist dabei unerlässlich.”